Der Jakobsweg
- Karin Alana Cimander
- 6. Aug.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Aug.
Sandra setzte kraftvoll einen Schritt vor den anderen. Es war ihr zweiter Tag auf dem Camino Portugès de la Costa, dem Jakobsweg, der durch Portugal, entlang der atlantischen Küste, führt. Vor drei Tagen war sie in Porto gelandet und hatte dort erst einmal übernachtet. Ca. 240 km wollte sie insgesamt in elf Etappen bewältigen. Ein tiefer, innerer Drang hatte sie hierhergeführt, ohne dass sie es konkret hätte in Worte fassen können. Sie war beruflich sehr erfolgreich, verdiente eine Menge Geld. An ihrer Seite hatte sie einen netten Partner, es passte, fand sie. Er war zwar nicht die große Liebe, aber was hieß das schon? Gab es die überhaupt? Das Gefühl, dass da jemand war, der sie so akzeptierte, wie sie war, der sie über alles liebte, bei dem sie das Gefühl von tiefer, innerer Verbundenheit spürte? So vertraut, so intensiv, als wäre er ein Teil von ihr selbst, bei dem sie spürte, wie es ihm ging, auch wenn er nicht anwesend war? Tja, so etwas las man in Büchern, aber - gab’s das wirklich? Sandra konnte es sich nicht vorstellen. Ihre Partnerschaft war ok, so wie sie war – Punkt. Und trotzdem - da gab es eine Leere in ihr, die sie nicht benennen konnte. Früher war es nur ein leises Wispern, das jedoch im Laufe der letzten Jahre immer lauter, immer intensiver geworden war. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sie angefangen zu suchen, ohne zu wissen wonach.
Eine Freundin hatte ihr gesagt:
„Geh doch mal den Jakobsweg! Da hört man immer wieder, dass das mit Menschen viel macht, Erkenntnisse bringt und das Leben verändert.“
Na ja, ihr Leben wollte Sandra eigentlich nicht verändern. War doch gut so, wie es war. Wenn da nicht diese Leere, dieses Wispern gewesen wäre. Also hatte sie sich, nachdem sie hin und her überlegt und sich über den Jakobsweg informiert hatte, dazu entschieden es zu versuchen. Landschaftlich sollte es ja wunderschön sein – das war doch schon mal was! Obwohl sie sehr sportlich war, hatte sie zu trainieren begonnen. Lange Strecken zu laufen stellte für sie kein Problem dar, jedoch mit einem mehrere Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken war das schon eine andere Herausforderung.
Und nun war sie hier, auf dem Camino. Es eröffnete sich ihr eine wunderschöne, abwechslungsreiche Landschaft. Fremdartige, intensiv duftende, blühende Sträucher säumten immer wieder den Weg, der durch eine teilweise felsige Landschaft führte. Grillen zirpten im durch die Hitze gelb gewordenen Gras, Schmetterlinge flatterten umher und labten sich an der Nektarfülle. Überall summte und brummte es, und wehte Sandra so nach und nach die Spannung aus dem Körper, mit der sie hierhergekommen war. Immer wieder gab die Landschaft einen Blick auf den grenzenlos scheinenden Atlantik frei, der eine annehme Frische herüberwehte. Von gelben Pfeilen und Muschelsymbolen geleitet, führte der Weg durch malerische Fischerdörfer und historische Städte. Ab und zu traf sie andere Pilger und man grüßte sich „Buen Camino“, was den Wunsch nach einer guten und erfolgreichen Reise ausdrückt.
Als die Sonne sich langsam zum Horizont senkte und Sandra fast ihr zweites Etappenziel erreicht hatte, sah sie im Schatten eines Olivenbaums eine junge Frau sitzen. Ihre Körperhaltung war zusammengesunken, der Rucksack, der neben ihr stand, wirkte für die zierlich anmutende Frau viel zu groß und schwer. Ihre Haut war, trotz der intensiven Sonne, blass und fahl. Mit gesenktem Kopf saß sie da, schien erschöpft. Sandra blieb stehen. Vielleicht benötigte die Frau ja Hilfe.
„Can I help you?“, erkundigte sie sich deshalb.
Die Angesprochene hob den Kopf und lächelte schwach.
„Thank you, I am ok“, entgegnete sie freundlich mit schwacher Stimme. „Sorry, ... are you German?, erkundiget sie sich jedoch, nach kurzem Zögern, ihrerseits mit fragendem Blick.
Erstaunt zog Sandra die Augenbrauen hoch.
„Ja, ich komme aus Deutschland!“, entgegnete sie überrascht. Die junge, schlanke Frau, die etwa in Sandras Alter war, erhob sich.
„Hab ich an deiner Aussprache erkannt“, lächelte sie. „Hi, ich bin Clara!“ Freundlich streckte sie Sandra ihre Hand entgegen, die diese ergriff.
„Hi, ich bin Sandra!“
Es war komisch. Irgendwie hatte sie das Gefühl, diese Frau zu kennen. Sie kam ihr so vertraut vor. Deshalb fragte sie:
„Woher kommst du?
„Ich komme aus Kiel“, entgegnete Clara und ihr Blick ruhte erwartungsvoll auf Sandra.
„Ja Mensch, son Zufall, ich wohne auch in Kiel!“, stieß diese erstaunt aus. Deshalb kommt sie mir sicher so bekannt vor. Wir sind uns bestimmt schon mal begegnet, obwohl ich mich nicht erinnern kann, wo das gewesen sein soll.
Clara schwieg, jedoch traf Sandra ein wissender Blick, in dem sich Sanftheit und Wärme widerspiegelte. Sie wirkte plötzlich auch nicht mehr so schwach, ihre Haut hatte eine rosige Farbe angenommen.
„Es ist schön, dass ich dich getroffen habe. Sollen wir zusammen weitergehen?“, fragte sie und schien dabei voller Kraft zu sein. Als Sandra erstaunt nickte, griff Clara nach ihrem Rucksack und wuchtete ihn sich mühelos auf den Rücken. Sandra schüttelte innerlich den Kopf, was für eine merkwürdige, interessante und immer vertrauter wirkende Frau.
Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als sie Vila do Conde, ihr Etappenziel, erreichten. Sie beschlossen gemeinsam in einem Kloster zu übernachten, nachdem sie eine Kleinigkeit in einem kleinen, gemütlichen Lokal zu sich genommen hatten. Gemeinsam schliefen sie in einem Etagenbett. Kurz vor dem Einschlafen überlegte Sandra, worum ihr diese Frau so vertraut schien und sie sich in ihrer Nähe so wohl fühlte. Es war wirklich total verrückt!
Am nächsten Morgen zogen beide zusammen, nachdem sie ein kleines, gemeinsames Frühstück eingenommen hatten, weiter, ohne dies konkret kommuniziert zu haben. Es war, als verstünden sie sich wortlos. Nichts bedurfte irgendeiner Absprache. Sie blieben zusammen, ging gemeinsam weiter den Camino. Es gab Phasen stundenlangen Schweigens und Zeiten in denen eine von ihnen zurückfiel und eine Zeitlang alleine ging. Es geschah einfach, ohne Worte. Ein gemeinsamer, immer inniger, vertrauter werdender Reigen, in dem jede Ihre Bedürfnisse auslebte. Und es gab Zeiten, erfüllt von tiefen Gesprächen. Sandra erzählte Clara von ihrem Gefühl, dieser Leere, die sie ausfüllen wollte, weil sie immer mehr spürte, dass in ihrem Leben etwas fehlte.
„Sag mal, liebst du dein Leben?", fragte Clara nach einiger Zeit unvermittelt und schaute ihre Wegbegleiterin erwartungsvoll an. Sarah blieb erstaunt stehen.
„Ob ich mein Leben liebe? Ehrlich gesagt, habe ich darüber noch nie nachgedacht. Es ist okay. Ich habe doch alles. Mir geht's gut.“
„Und was glaubst du, woher dann die Leere in dir kommt und warum du hier bist?”
„Tja, das versuche ich ja gerade herauszubekommen", grinste Sandra ausweichend. Sie spürte, dass Clara mit ihr in eine innere Tiefe abtauchen wollte, vor der sich alles in ihr sträubte. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, sich selbst zu verlieren, stieg in ihr auf. Sie atmete tief durch und meinte so unverfänglich wie es ihr möglich war:
„Aber weißt du was? Seitdem wir zusammen sind, spüre ich diese Leere nicht mehr. Sicher brauche ich nur die richtigen, persönlichen Kontakte, die ich augenscheinlich bisher noch nicht gefunden habe.“
In Claras Blick, der sie traf, lag tiefe Weisheit, Frieden und Liebe, als sie, ohne auf Sandras Ausführungen einzugehen, entgegnete:
„Liebst du dich selbst?"
Diese Worte trafen Sandra wie ein Blitzschlag, der sie vom Scheitel bis zur Sohle erschütterte, ohne dass sie hätte sagen könnten warum. Es war, als wäre ein alter, harter Panzer aufgebrochen, der unendliche Sehnsucht freisetzte. Es brach sich ein Schmerz bahn, der nicht in Worte zu fassen war. Nach ein paar Sekunden versuchte Sandra das Ganze wieder rational zu betrachten, um von diesem sie vollends erschütternden Gefühl abzulenken. Was passierte hier gerade? Mit belegter Stimme entgegnete sie so lapidar, wie es ihr möglich war:
„Naja, ich sehe gut aus, habe eine einigermaßen gute Figur und mache einen guten Job. Ich werde von Freunden und Kollegen geschätzt... ", doch dann brach ihre Stimme und sie sackte innerlich zusammen. Clara schaute sie liebevoll an.
„Ach, meine liebe Sandra. Das sind doch alles nur Äußerlichkeiten“, entgegnete sie verstehend.
„Sich selbst zu lieben ist so viel mehr! Ich werde dir zeigen, was ich meine.“
Sie nahm Sandra in den Arm und plötzlich konnte diese die Leere in sich als dunklen leeren Raum wahrnehmen, der unendlichen Schmerz in sich trug. Schluchzend lag sie in Claras Armen, die ihr sanft über den Rücken strich. Als sie sich nach einem schier endlos scheinenden Moment von Clara löste, schaute sie die junge Frau, die plötzlich von innen heraus zu strahlen schien, an und fragte:
„WER bist du?“
„Ich bin deine Selbstliebe. Ich habe lange auf dich gewartet, jedoch nun kann ich zurückkehren, zu dir.“
Mit diesen Worten umarmte sie Sandra erneut und floss in den Raum der Leere. Sie erhellte ihn mit Lichtfunken und einer Liebe, die Sandra noch nie in ihrem Leben gefühlt hatte. Es gab keine Selbstzweifel, kein sich selbst kritisieren und abwerten mehr. Sie liebte sich so, wie sie war, bedingungslos, alles annehmend, nichts bewertend, alles durchdringend.
Sie spürte und erkannte, dass ihr bisheriges Leben lediglich eine Ansammlung von Ereignissen und Gegebenheiten gewesen war. Eine Rolle, die sie gespielt und, zugegebenermaßen, gut ausgefüllt hatte. Ein Mantel, in den sie sich gehüllt hatte, ohne dass dieser sie jedoch zu wärmen vermochte. Jetzt, mit Liebe betrachtet, eröffneten sich ihr unendliche Dimensionen, die sie erkennen ließen, welcher Reichtum in jedem Augenblick und auch IN IHR lag.
Tränen tief empfundener Dankbarkeit fanden ihren Weg und benetzen ihre Wangen.
Sie konnte endlich erkennen, wer sie wirklich war - wundervoll und einzigartig!
Clara in ihr lächelte, dankbar, endlich wieder zu Hause zu sein. Lange hatte sie darauf gewartet.
Als Sandra Santiago de Compostela zwei Tage später erreichte, schien es ihr, als sei sie neu geboren.

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