Die beiden Seiten einer Medaille
- Karin Alana Cimander
- 28. Aug.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Aug.
Die kleinen Kiesel knirschten unter den einfachen, ledernen Sandalen und durchbrachen die Stille der Natur, in der nur das Zirpen der Grillen zu hören war. Die ihn umgebende Stille und seine innere Ruhe schwangen im Gleichklang. Glück durchströmende Georgios. Ja, er fühlte sich vollkommen beseelt. Er war eins mit dem Schöpfer, dem Höchsten, wie er ihn nannte. Leicht umspielte seine schwarze, knöchellange Robe seinen ansonsten unbekleideten Körper. Sein graues, von einem schwarzen Habit bedecktes Haar, fiel ihm über die Schultern bis in den Rücken. Sein grauer Bart reichte bis zur Taille.
Vor einem halben Tag war er, wie jedes Jahr, im Kloster Athos, in dem er lebte, aufgebrochen. Das Kloster liegt hoch oben auf einem fingerähnlichen, felsigen Teil der Halbinsel Chalkidiki, die an der griechischen Küste ins Ägäische Meer ragt. Dort werden nur männliche Lebewesen geduldet. Die Ausnahme bilden, wegen ihrer Nützlichkeit, Bienen und Hühner. Georgios verließ, für etwa drei Monate einmal im Jahr das Kloster, um sein Heilwissen Menschen zur Verfügung zu stellen. Er wusste alles über Heilkräuter und ihre Wirkungsweise. In seinem Kräutergarten baute er sie an und fertigte, Tees, Tinkturen, Säfte, Salben und vieles mehr daraus. In seiner, mit den Schätzen der Natur gut gefüllten Umhängetasche, zog er seines Weges, freute sich auf die Menschen, die ihm begegnen würden und darauf, dass er ihnen helfen durfte. Es befriedigte ihn jedes Mal zutiefst. Ja, er war ein guter Diener des Höchsten und Groll, Wut, Neid und Gier gab es in seinem Leben nicht mehr! Wie auch? Er war ja beseelt!
Es würde noch einige Tage dauern, bis er in bewohnte Gebiete kommen würde. Er betete leise vor sich hin, als sein Blick plötzlich auf etwas viel, dass ein Stück voraus am Wegesrand lag. Von weitem sah es wie ein Bündel Lumpen aus. Verwundert ging Georgios darauf zu. Als er es erreichte und vorsichtig hineingriff, erschrak er! Nicht ein Bündel Lumpen lag vor ihm, sondern ein vollkommen zerschundener Mensch, schwer verletzt, kaum mehr zu erkennen. Georgios wähnte ihn bereits tot, stellte bei näherem Betrachten jedoch fest, dass noch Leben, wenn auch nur noch die Spur eines Hauches, in ihm war. Er öffnete seine Tasche, holte eine Wasserflasche hervor und benetzte vorsichtig die Lippen des Bewusstlosen und versorgte die unendlich vielen Wunden des Zerschundenen. Es gelang sogar, ihm ein wenig Flüssigkeit einzuflößen. Er wickelte seine Schlafdecke, die er zusammengerollt ebenfalls über der Schulter tragen hatte, aus und fertigte daraus eine Art Tragetuch, in das er den Verletzten hüllte. Er konnte ihn ja hier nicht seinem Schicksal überlassen! Es kostete den Mönch einige Mühe, diese schwere Last zu tragen. Immer wieder machte er Pausen, versorgte die erneut zu bluten beginnenden Wunden. Es schien kein Ende zu nehmen.
Am nächsten Morgen erwachte der Fremde kurz aus seiner Bewusstlosigkeit, sodass Georgios ihm ein paar Löffel Kräutersuppe, die er zubereitet hatte, einflößen konnte, ehe der Verletzte wieder in tiefe Bewusstlosigkeit versank. Obwohl der Fremde dürr und abgemagert war, schien er wie eine tonnenschwere Last Georgios Rücken zu beugen. Der Mönch kam nur sehr langsam voran. Der Weg schien schier endlos, so als trete er auf der Stelle.
In den kommenden Tagen verheilten die Wunden des Fremden erstaunlich schnell. Das Gesicht, in das Georgios blickte, schien ihm vertraut, jedoch auf eine unangenehme Art und Weise. Der Mönch war sich auch nicht sicher, ob der Fremde, der nun inzwischen längere Wachphasen hatte, ihn überhaupt verstand. Wenn Georgios ihn ansprach, schaute dieser ihn nur mit einem langen Blick an. Dann, am fünften Tag der gemeinsamen Reise, betrachtete der Fremde, nachdem er ein kräftiges Mahl zu sich genommen hatte, Georgios lange und sprach plötzlich in perfektem Griechisch:
„Warum trägst du mich? Warum kümmerst du dich um mich? Warum hast du mich nicht einfach am Wegesrand liegen lassen?“ Erstaunt schaute ihn der Mönch an.
„Wieso? Na, du bist schwer verletzt, warst dem Tode sehr nah! Wie du sehen kannst, bin ich ein Mann Gottes, ein Diener des Höchsten, des Schöpfers! Wie hätte ich dir da nicht helfen können!“
Die Fragen des Fremden irritierten ihn und ließen Unverständnis, gepaart mit etwas Groll aufsteigen, was er mit Erschrecken wahrnahm. Er bekam merkwürdige Fragen gestellt, die ihn, auf eine ihm unerklärliche Weise erregten, was ihn ebenfalls erschreckte. Bisher war er der Diener des Höchsten, ein Mensch, der reine Liebe war, der nichts mehr bewertete, im Einklang mit allem, was existierte und lebte. So glaubte er zu mindestens - bisher. Der Fremde beobachtete ihn schmunzelnd. Unbändige, unerklärliche Wut, von der er glaubte, sie besiegt zu haben, brach sich im Innerendes Mönches den Weg an die Oberfläche. Viele Jahre, Jahrzehnte hatte er sie eingekerkert, glaubte sie besiegt zu haben.
„Was grinst du so?“, entfuhr es ihm barsch.
„Ich freue mich“, entgegnete der Fremde unbeeindruckt.
„Du FREUST dich?“ Unerklärliche Raserei erfasste den Mönch. Mit hochrotem Kopf schnappte er nach Luft.
„Ja, ich freue mich - für dich. Darüber, dass du deine Wut wieder gefunden hast.“
„Was soll daran gut sein?“ Georgios konnte kaum sprechen. Er verspürte den Drang den Fremden zu schütteln, ja, ihn sogar zu schlagen. Erschrocken vor sich selbst wich er zurück.
„Was, bitte, ist an Wut gut?“, entgegnete er so gefasst, wie es ihm möglich war. „Wut führt immer zu Schmerz und Leid, für sich selbst und andere. Wut hat noch nie etwas Gutes hervorgebracht. Und sie ist nicht im Sinne des Höchsten! Sie gehört dem Bösen an!“ Langsam hatte er seine Fassung wieder erlangt.
„Bist du dir da ganz sicher?“, entgegnete der Fremde unbeeindruckt. „Wut ist eine Kraft, die unbedacht eingesetzt, ja, Schmerz erzeugen kann. Was aber, wenn man diese Kraft kanalisiert und positiv nutzt? Es ist DEINE Kraft, Georgios, die, wenn du sie verleugnet, sich gegen dich selbst richtet. Verstehst du sie jedoch, kannst du dieses riesengroße Potenzial nutzen, für dich und andere. Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren, wesentlichen Aspekt der Wut“, fuhr der Fremde fort. „Man könnte ihn auch als zweite Seite einer wundervollen, göttlichen, allumfassenden Medaille bezeichnen.“
Georgios schüttelte abwehrend den Kopf und gekreuzigte sich.
„Wut ist etwas Böses, Schlechtes. Und wie, bitte schön, soll sie Potenzial sein, das im Guten zu nutzen ist?“
Der Fremde lacht kurz auf und fuhr schmunzelnd fort:
„Es ist ein banales Beispiel. Stelle dir jedoch einmal vor, wie effizient sie sein kann, wenn du beispielsweise Holzhacken oder dein Kräutergarten umgraben möchtest. Du würdest in viel kürzerer Zeit, mit weniger, gefühlter Kraft, viel mehr bewältigen. Ich gebe zu, das ist nur ein sehr einfaches Beispiel. Wenn du die Wut jedoch sich nicht unbedacht nach außen drängen lässt, sondern ihren Sinn verstehst, kannst du Heilung erfahren. Voraussetzung ist jedoch, sie anzunehmen, anzuschauen und nicht zu verleugnen. Sie zeigt dir, das da etwas in dir ist, ein alter Schmerz beispielsweise, der sich auf diese Weise bemerkbar macht um geheilt zu werden. Heilst du den Schmerz, wandelt sich die Wut. Hinter ihr liegt IMMER ein Schatz, ein Geschenk für dich. Das Geschenk der inneren Heilung.
"Georgios schüttelte verwirrt den Kopf, spürte jedoch, wie die Worte in seiner Seele und an eine lange Zeit verschlossene Tür klopften.
„Und was meinst du mit `eine Seite einer wertvollen, göttlichen, allumfassenden Medaille?` Das ist doch vollkommen absurd!“ Wieder gekreuzigte sich der Mönch. Das Gefühl von Blasphemie stieg in ihm auf.
„Du, als Mann Gottes, glaubtest Gefühle wie Wut und Groll hinter sich gelassen, sie besiegt zu haben, weil sie als schlecht bezeichnet werden.“ Georgios nickte. „Aber was, wenn ich dir sage, dass du ohne sie nie das Gefühl des Beseeltseins fühlen könntest? Dass du ohne sie nie die Liebe zum Schöpfer, wie du ihn nennst, wahrnehmen könntest? Schau, wir leben in einer Welt der Dualität. Würdest du kein Dunkel kennen, gebe es kein Hell. Wenn du nicht wüsstest, wie sich Kälte anfühlt, gebe es keine Wärme. Du könntest nie ein guter Mensch sein, wenn du nicht wüsstest und erfahren hättest, wie sich das Gegenteil anfühlt. Ohne Hass und Wut, wärst du nicht der Mensch, der du heute bist, denn es gebe die Situation des Guten nicht. Es gebe DICH nicht. Verstehst du, was ich meine? Ohne das eine, wäre das andere niemals erfahrbar. Es ist wie bei einer Waage. Erst durch das Akzeptieren von beiden Seiten, kann ein Ganzes, eine Einheit entstehen. Ist sie im Gleichgewicht, erst dann ist das gesamte Göttliche erfahrbar. Es beinhaltet ALLES und ist gleichzeitig ein vollkommen neutraler Zustand. Gott ist die GESAMTE Medaille – mit BEIDEN Seiten.“, endete der Fremde augenzwinkernd. Georgios schaute nachdenklich vor sich hin. Dann nickte er verstehend.
„WER bist du?“, fragte er und schaute den Fremden an.
„In den letzten fünf Tagen war ich der Schmerz in deinem Herz, deine Wut, all deine Gefühle, die du eingekerkert hattest, um sie nicht mehr fühlen zu müssen, weil du glaubtest, sie seien schlecht. Ich habe sie für dich erfahrbar gemacht. Zentnerschwer lagen sie auf deinen Schultern. Jetzt, wo du diese nicht mehr bekämpft, sondern ihr Dasein akzeptierst, bin ich die Liebe.“
Mit diesen Worten streifte er die Lumpen, die seinen Leib bisher eingehüllt hatten, ab. Den vollkommen geheilten Körper schmückte ein goldenes Gewand. Georgios starrte ungläubig auf die Erscheinung.
„WER bist du?“, wiederholte er.
„Ich bin, wie du, ein Diener des Höchsten, wie du ihn nennst. Mein Name ist Luzifer." Georigios schnappte nach Luft und bekreuzigte sich. Ehe er jedoch etwas sagen konnte, fuhr Luzifer fort:
"Ich weiß - du glaubst, ich bin das Böse, der Teufel, ein gefallener Engel.“ Der Engel schmunzelte. „Der Höchste hat mich ausgesandt, um DIR und auch allen anderen Menschen die Gnade des Verstehens zu erweisen.“
Georgios schaute die strahlende Erscheinung mit großen Augen an und nickte verstehend. Ihm war, als offenbare sich ihm die Weisheit der allumfassenden Liebe. Luzifer lächelte.
„Ich danke dir von Herzen, dass ich dir dieses Geschenk machen durfte. Trage es im Herzen und trage es in die Welt hinaus, mein lieber Georgios.“
Der Mönch nickte nachdenklich, als ihn plötzlich ein grelles Licht blendete. Als er die Augen wieder öffnete, war er alleine. Später konnte er nicht mehr sagen, wie lange er noch dort gesessen hatte. Er hatte das Gefühl des Getragenseins, als er seinen Weg fortsetzte, vollkommen eingehüllt im All-Eins-Sein.
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