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Der Mangel und die Fülle

  • Autorenbild: Karin Alana Cimander
    Karin Alana Cimander
  • 22. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit

Der Mangel, ein korpulenter Mann mit einem enorm dicken Bauch, saß in seinem breiten, bequemen Sessel und schaufelte ununterbrochen Nahrung in sich hinein. In seinem hochroten, pausbackigen Gesicht saß auf einer dicken Knubbelnase eine Nickelbrille. Sein feiner, grauen Anzug mit Weste, in der eine goldene Taschenuhr steckte, bekleidete den schwammig wirkenden Leib. Die spiegelblanke Glatze war von einem grauen Haarkranz umgeben.

Er lebte im Körper von Sabine und bewohnte fast alle Räume, durch die der beißende Geruch von Adrenalin und einem Hauch Cortisol wehte. Nur im mittleren Bereich des Etablissements, direkt im Herzen, gab es einen winzig kleinen Raum, in der die Fülle lebte. Das störte den Mangel jedoch nicht im Geringsten.

Früher hatte er bei Hedwig, Sabines Mutter gelebt. Damals bewohnte er nur ein kleines Zimmer und Nahrung gab es selten. Doch als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die zehnjährige Hedwig, zusammen mit ihren drei Geschwistern und der Mutter aus der Heimat Ostpreußen flüchten musste, ja da, da kann SEINE Zeit! Hedwig und ihre Familie hatten fast alles verloren und litten oft Hunger, auf dem Weg zu Fuß nach Westen. In Windeseile bezog der Mangel viele neue Räume und bald gehörte ihm, bis auf eine winzig kleine Kammer im Herzen, alles. Die kommenden Jahre verbrachte er ein Leben im Luxus, denn Hedwig wurde, auch als sie erwachsen war, nie wohlhabend und wirklich glücklich. Zu viele Glaubenssätze prägten ihr Leben.

Als ein paar Jahre später Sabine geboren, bezog der Mangel, als sie fünf Jahre alt war, auch teilweise bei ihr ein paar Räume. Nun hatte er zwei Wohnstätten, herrlich! Zu dieser Zeit bewohnte die Fülle bei Sabine noch viele Bereiche, was sich jedoch im Laufe der kommenden Jahre immer weiter wandelte, bis sie schließlich nur noch den kleinen Raum im Herzen bewohnte. Früher, ja früher, als Sabine noch klein war, war die Fülle eine imposante, starke Erscheinung, die bunte Kleider trug, immer zu Späßen aufgelegt war und Sabine oft ein Lächeln und strahlen ins Gesicht zaubern konnte. Ständig hallte ihr fröhlicher Gesang durch alle Räume, durch die der feine Duft von Dopamin, Serotonin und Endorphin wehte. Heute, Sabine war jetzt Einundsechzig, lebte sie in einer kleinen Kammer im Herzen. Sie war schmal geworden, ihre Kleider waren ihr ein wenig zu weit und etwas verblasst. Die Lebensfreude und das Strahlen waren jedoch geblieben. Die kleine Kammer leuchtete in hübschen Farben und war mit gemütlichem, geschmackvollem Mobiliar eingerichtet. In einer Ecke stand eine Duftlampe, die den Raum mit Dopamin, Serotonin und Endorphinduft erfüllte, der durch das kleine, weit geöffnete Fenster nach außen drang. Es gab so wenig Freude in Sabine Leben, zumindest konnte sie diese nicht mehr wahrnehmen. Zu viele Glaubenssätze hatte sie von ihrer Mutter übernommen und darüber hinaus eigene entwickelt.

Dem Mangel war das Recht. Als Sabines Mutter gestorben war, hatte er dort seine Sachen zusammengepackt und war mit ihnen komplett hier eingezogen. Es war ein herrliches Leben! So viel Angst, so viel Mangeldenken, so viele negativen Gefühle und Gedanken. Und dann immer diese wundervollen Mahnungen, die Sabine ins Haus flattern! Er konnte gar nicht so viel essen, wie ihn serviert wurde.

Des Nachts jedoch, wenn Sabine schlief, und der Mangel sich schnarchend in seinem breiten, luxuriösen Bett wälzte, sang die Fülle leise das Lied aus Sabines Kindheit: “Folge mit deinem Herz, du bist wundervoll …“, und schickte ihr Bilder und Erinnerungen an schöne Momente und Begebenheiten, die daran erinnerten, das Leben Fülle ist, in jedem Augenblick und das es ihr Geburtsrecht ist. Und das Herz der Fülle hüpfte, wenn Sabine im Schlaf lächelte.

Dann geschah etwas, wodurch der Mangel völlig aus dem Häuschen geriet. Sabine wurde die Arbeitsstelle gekündigt! Der Mangel wähnte sich siegessicher, dass nun das kleine Zimmer im Herzen in sein Eigentum überging. Zugegebenermaßen hatte Sabine in ihrer Firma nicht gerne gearbeitet, doch die Angst bald ohne Einkommen zu sein, lähmte sie. Untermauert wurde das Ganze durch die Aussage der Sachbearbeiterin beim Arbeitsamt, dass Sabine mit 61 Jahren so gut wie nicht mehr vermittelbar war. Der Mangel feierte ohne Ende. Es war so herrlich!

Die Fülle jedoch, lies in ihren Bemühungen nicht nach, Sabine zu erinnern. In der kommenden Nacht sang sie aus Leibeskräften und schickte ihr Erinnerungen, wie wohl sie sich damals als Kind im Garten ihrer Eltern gefühlt hatte. Damals bekam sie ein eigenes, kleines Beet, was sie selbst bestellen konnte. Gerne naschte sie von den Sträuchern und Bäumen und half ihrer Mutter mit Begeisterung beim Einkochen. Die Marmelade schmeckte herrlich, da ihre Mutter ganz besondere Rezepte verwendete.

Als Sabine am nächsten Morgen erwachte, war der Traum noch so präsent und real, dass es ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Der Mangel schlief noch tief und fest und bekam nichts mit. Sabine hatte plötzlich eine Idee. Eigentlich hatte sie geplant die Abfindung, die sie von ihrer Firma bekommen hatte, gut wegzulegen. Doch nun hatte sie eine Vision und wunderte sich über sich selbst. In ihr war der tiefe Wunsch gereift, für einen Teil des Geldes einen Garten zu pachten.

Jetzt wurde der Mangel aus seinem Schlaf gerissen. Was war da los? Er stellte fest, dass seine Behausung sich etwas verkleinert hatte. Nach dem ersten Stirnrunzeln entspannte er sich jedoch.

    „Die hat viel zu viel Schiss das wirklich durchzuziehen“, sagte er zu sich selbst und ließ ein paar Cortisolbomben explodieren, in dem Glauben, diese würden es schon wieder ins Lot bringen. Wie erstaunt war er jedoch, als Sabine weiter ihren Plan verfolgte und Sätze wie „Das wird nie was!“, „Dafür bist du zu dumm und hast überhaupt keine Ahnung davon“, „Wenn du das Geld ausgibst, fehlt es dir und irgendwann wirst du unter der Brücke schlafen“, nicht die gewünschte Wirkung zeigten. So langsam bekam der Mangel ein mulmiges Gefühl. Da Sabine nun ihren Herzen folgte, wurde sie geführt und begegnete einer Frau, die einen Garten mit vielen Obstbäumen und -sträuchern besaß, jedoch körperlich nicht mehr in der Lage war, diesen allein zu bestellen. Sabine bot sofort ihre Hilfe an, und da die Frau keine Verwendung dafür hatte, konnte Sabine sämtliches Obst für sich behalten. Als sie der Gartenbesitzerin von den leckeren Rezepten ihrer Mutter erzählte, meinte diese:

„Gibt‘s die denn noch? Hast du die noch? Mensch, wenn, dann kannst du doch dein Eingemachtes verkaufen! Wenn das so besonders ist, findest du dafür bestimmt Abnehmer!“

Sabine zögert, da sie sich das nicht vorstellen konnte - wie sollte das gehen? Der Mangel, der immer mehr Räume an die Fülle verloren hatte, atmete auf, jedoch nur kurz. Zu Hause angekommen durchsuchte Sabine alle Schränke und Schubladen, und - fand tatsächlich das alte, vergilbte, in Handschrift verfasste Kochbuch ihrer Mutter! Sie probierte aus, verändert teilweise die Rezeptur um einen Hauch und das Ergebnis war überwältigend! Da Sabine nun ihren Herzen und ihrer Leidenschaft folgte, büßte der Mangel immer mehr und mehr Raum ein. Die Fülle hingegen floss in die leer gewordenen Räume, durchlichtete sie und verströmte Dopamin, Serotonin und Endorphin. Der wundervolle Duft durchdrang das ganze System. Sabine fasste all ihren Mut zusammen und bot ihre Produkte einem Bioladen an, der diese, nach Verkostung, unbedingt in sein Sortiment aufnehmen wollte.

Heute, zwei Jahre später, ist Sabine Inhaberin einer kleinen Firma mit vier Mitarbeiterinnen. Den gesamten Betrag ihrer Abfindung hatte sie in den Kauf von Obstgärten investiert. Ihre Produkte sind über alle Maßen beliebt und finden reißenden Absatz. Jetzt steht Sabine jeden Morgen mit einem Lächeln im Gesicht auf.  Sie ist glücklich und liebt es, was sie tut. Nichts hat sie bisher so erfüllt!

Der Mangel lebte noch eine ganze Weile tief im Untergeschoss. Seine Kleidung war ihm viel zu weit geworden und schlotterte um seinen abgemagerten Körper. Er spürte, wie er immer weniger, kleiner und schwächer wurde.


Inzwischen bewohnt die Fülle alle Räume und verströmt sich täglich.


ree

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